Noch vor einigen Jahrzehnten glaubten Mediziner, dass das Leben erst mit der Geburt wirklich beginnt und das Neugeborene erst nach der Geburt Empfindungen und sinnliche Wahrnehmung hat. Heute wissen wir, die Welt der Sinne beginnt viel früher.
Schon in der Embryonalzeit, also vor der 8. Schwangerschaftswoche ist das Kind ständig in Bewegung und es kann auch schon mit den Fingerchen greifen. Mit zunehmender Ausbildung seiner Hände und Füße wird es aktiver und vertreibt sich die „Langeweile“. Immer wieder sieht man bei Ultraschall-Untersuchungen Kinder, die sich an den Fußen spielen oder Daumen lutschen.
Der Fötus lebt quasi schwerelos im Fruchtwasser, könnte man meinen. Doch wahrscheinlich kann er registrieren, ob seine Mutter sitzt, geht, steht oder liegt. Sein Innenohr, und damit das Gleichgewichtsorgan, ist in der Mitte der Schwangerschaft bereits ausgebildet.
Ab dem 4. Monat kann das Kind auch hören. Von himmlischem Frieden kann nicht im Geringsten die Rede sein. Laut geht es zu im Mutterleib. Das Herz der Mutter schlägt und dröhnt, das Kind sitzt unmittelbar darunter. Das Blut fließt durch die Nabelschnur und verursacht Strömungsgeräusche wie eine WC-Spülung. Direkt nebenan arbeitet Mamas Darm. Na ja, einen knurrenden Magen hört man meterweit. Aber selbst wenn man ihn von außen nicht hört, drinnen macht die Verdauung höllisch Lärm.
Vielleicht ist das ein Grund, dass Babys nach der Geburt im Auto gut schlafen können. Es ist der gewohnte Geräuschpegel. Die mütterliche Stimme hört das Kind über die körperliche Weiterleitung der Schallwellen recht gut, wenn man davon absieht, wie hoch der Lärmpegel im Mutterleib ist. Geräusche von außen oder die Stimme des Vaters kommen nur noch sehr gedämpft an. Auch wenn sich nach der Geburt alles anders anhört, die Modulation der Stimmen oder sogar von der Mutter häufig gehörte Musik kann das Kind möglicherweise wiedererkennen.
Der Geruchssinn entsteht auch im 4.Monat und damit auch der Geschmackssinn. Geschmack ist zu 70% Geruch. Der Fötus nimmt über das Fruchtwasser wahr. Geschmacksstoffe aus dem Essen der Mutter sollen in das Fruchtwasser gelangen, von dem der Fötus trinkt. Das Fruchtwasser scheidet er übrigens auch wieder aus. Aus Tierversuchen weiß man, dass Kaninchen, deren Mütter während der Schwangerschaft mit Wacholder gefüttert wurden, diese Pflanze später besonders gerne fressen. Was daran wahr ist, sei dahingestellt. Es scheint aber auch später so zu sein, dass das kindliche Wohl- oder Missbefinden sehr von der Nahrungsaufnahme der stillenden Mutter abhängig ist. Bislang nicht untersuchte Aromastoffe im Blut, im Fruchtwasser oder in der Muttermilch mögen hier eine Rolle spielen.
Die Augen entstehen bereits früh können aber erst ab dem 8. Monat hell und dunkel wahrnehmen, also auch Licht, das wegen der mütterlichen Durchblutung rot durch die Bauchdecke schimmert.
Das Kind empfindet auch Kälte, Wärme und Schmerzen. Bei mütterlichem Fieber, steigert es genau wie die Mutter die Herzfrequenz. Bei einer Fruchtwasserpunktion schrecken die Kinder vor der Punktionskanüle zurück, wenn sie in ihren Bewegungen zufällig die Spitze treffen.
Das Reich der Sinne ist vielfältig im Mutterleib. Wir sollten deshalb nicht vergessen, dass die meisten körperlichen Reaktionen nicht durch äußere Reize ausgelöst werden. Sie werden vielmehr bestimmt durch Überträgerstoffe, Hormone und Schadstoffe. Das Kind reagiert wie die Mutter und wird entsprechend geprägt. Zuviel mütterlicher Stress führt zu kindlichem Stress. Mütterliches Rauchen macht Kinder vermehrt zu Rauchern und die Kinder von alkoholkranken Müttern sind meist erheblich unterentwickelt und neigen später dazu wiederum Alkoholiker zu werden.
Das Reich der Sinne beginnt vor der Geburt.